Weit über sieben Milliarden Menschen leben gegenwärtig auf der Erde. Im Jahr 2050 könnten es nach einer Prognose der Vereinten Nationen schon 9,8 Milliarden sein, 2100 dann 11,2 Milliarden. Das sind keine gute Aussichten für den Planeten: immer mehr Menschen produzieren immer mehr Abgase und Müll und konkurrieren um immer weniger Ressourcen. Das schreit nach Lösungsansätzen. Oder nach Bestrafungs-Angstlustfantasien! Das Kino hat beides in einem parat: In den letzten Jahren sind in US-Mainstream-Filmen immer wieder Figuren aufgetaucht, die mit dem Wachstumsdebakel durch radikale Dezimierung der Menschheit aufräumen möchten. In „Mission: Impossible – Phantom Protokoll“ (fd 40 813) ist es ein marodierender Wissenschaftler, der einen Atomkrieg anzetteln, in „Inferno“ (fd 44 200) ein Terrorist, der die globale Dezimierung mit einem biologischen Superkampfstoff bewerkstelligen will, in „X-Men: Apocalypse“ (fd 43 917) ein Ur-Wesen, das mit geballten Mutanten-Kräften den Weg für eine neue, bessere Evolution frei zu machen versucht. Den Superschurken geht es nicht mehr um die Weltherrschaft, sondern um die Weltrettung - freilich mit brutalsten Methoden.
Auch im Marvel Cinematic Universe(MCU) ist das Motiv schon längst angekommen: In „Avengers: Age of Ultron“ (fd 43 060) ging es um eine künstliche Intelligenz, die eigentlich zum Schutz der Erde erschaffen wird, dann aber zu dem Schluss kommt, dass dies am besten durch die Vernichtung der Menschheit zu gewährleisten sei. Der Film war einer der Höhepunkte der „Phase 2“ des MCU, das vor zehn Jahren mit Jon Favreaus „Iron Man“ (fd 38 713) seinen Urknall erlebte. Seitdem ist das MUC unaufhörlich gewachsen und hat immer neue Heldenfiguren plus diverse Sidekicks hervorgebracht. In „Phase 2“ kamen die Guardians of the Galaxy und Ant-Man zum Avengers-Stammpersonal hinzu; in „Phase 3“, die mit „The First Avenger: Civil War“ (43 849) begann, Doctor Strange, Spider-Man und Black Panther. Ultron hat es nicht geschafft, dieses Superhelden-Bevölkerungswachstum durch die Eliminierung der Avengers zu stoppen, wurde vielmehr von diesen besiegt. Doch es gibt ja auch noch Thanos, der davon träumt, den Kosmos wieder in die Balance zu bringen. Seine martialische lila Fratze zeigte er erstmals in der Post-Credit-Szene in „Marvel’s The Avengers“ (41 052); seitdem droht er als Über-Nemesis im Hintergrund. In „Avengers: Infinity War“ ist es nun an der Zeit, alle Karten auf den Tisch zu legen – um dann mit wagnerianischem Götterdämmerungsfuror quer über die Platte zu wischen. Wenn man aus dem Kino kommt, fühlt man sich, als hätte man Thors Hammer an den Kopf bekommen.
Für das titanische Spektakel um die „Infinity“-Steine und den quasi-göttlichen Titanen haben die bisherigen Filme der „Phase 3“ nicht viel an Vorarbeit geliefert. Das kann man enttäuschend finden, wenn man, angesteckt von der grassierenden Lust am Seriellen, auf einen starken filmübergreifenden Erzählbogen im MCU gehofft hatte. Man kann es aber auch als kluge Selbstbescheidung der Macher werten, die ein souveränes Abenteuer ans nächste reihten. Dabei haben sie zwar immer wieder nur das Schema F des Superhelden-Genres als Erzählgerüst benützt, in dem der Held auf einen Bösewicht trifft, nach Rückschlägen und Irrwegen in seine Rolle hineinwächst und den Schurken schlussendlich besiegt; doch diese Matrix wurde stets mit einem so interessanten Figurenensemble, so viel Witz und so viel formalen Spielereien ausgekleidet, dass die eigentlich überfälligen Ermüdungserscheinungen des Publikums bisher ausgeblieben sind. Ganz im Gegenteil: „Black Panther“ (fd 45 266) hat gerade erst wieder Box-Office-Rekorde gebrochen.
Thanos’ Figur wurde in „Marvel’s The Avengers“ und dem ersten „Guardians of the Galaxy“-Film (fd 42 540) bislang nur schemenhaft umrissen; in „Doctor Strange“ (fd 44 237) kam immerhin ein weiterer „Infinity“-Stein ins Spiel. Ansonsten waren die mysteriösen McGuffins aber während Phase 3 fast aus dem Blick geraten, die nun in „Avengers: Infinity War“ von Thanos gejagt werden, weil sie ihm zur Allmacht verhelfen sollen. Ihnen nun ihren Platz im MCU-Mythos zuzuweisen, Thanos zum charismatischen Gegenspieler aufzubauen und dazu noch ein etwa 20-köpfiges Helden-Ensemble sinnvoll zu beschäftigen, ist eigentlich eine Kamikaze-Mission. Doch genau das muss „Avengers: Infinity War“ leisten. Dass Anthony und Joe Russo, die nach „The Return of the First Avenger“ (fd 42 273) und „The First Avenger: Civil War“ erneut die Regie übernommen haben, dies gelingen könnte, schwant einem schon bei der Eröffnungssequenz. Diese knüpft direkt an die Post-Credit-Szene von „Thor: Tag der Entscheidung“ (fd 45 027) an, inszeniert knapp, aber präzise die erste Tragödie und pariert den ausgelassen-humorvollen Tonfall von „Thor: Tag der Entscheidung“ so effektiv mit einem harten Schlag ins Kontor, dass hinterher jedem klar ist, dass es in „Infinity War“ bitterer Ernst wird und die Helden diesmal tatsächlich an ihre Grenzen kommen könnten – da mögen Tony Starks Sarkasmen noch so trocken gegen den apokalyptischen Stachel löcken und Spidermans und Peter Quills nimmermüde Mundwerke für „comic relief“ sorgen.
Das Problem, die vielen Heldenfiguren einzubinden, hat das Drehbuch durch Gruppenbildung gelöst, die sich erzählerisch gut mit den unterschiedlichen „Infinity“-Steinen kombinieren lassen und den Anlass liefern, unterschiedliche kosmische Ecken des MCU bildgewaltig ins Spiel zu bringen. Außerdem sorgt die geschickte Aufteilung der prominenten Besetzung dafür, dass sowohl alte Bindungen als auch neue Reibungen zwischen den etablierten Figuren nicht zu kurz kommen: Freunde und Liebende sehen sich endlich wieder oder werden getrennt, neue Bekanntschaften entstehen, superheldische Egos krachen aufeinander und werden einmal mehr zugunsten der Solidarität untereinander überwunden – visuell gestützt von Action-Choreografien, die immer wieder das Teamwork betonen. Das ganze Beziehungsnetzwerk eben, das sich nicht in Zahlen ausdrücken lässt, das manchmal unvernünftig sein mag und mitunter verhängnisvoll – aber immer noch besser ist als eine Logik, die zum Wohl des Ganzen individuelles Leben für überzählig erklärt und keinen Sinn hat für die Lücke, die jeder Tod in das Gewebe reißt.
Die Autoren beweisen einen feinen Sinn für die Position des Films als „Jubiläumsedition“ nach insgesamt zehn Jahren MCU, wenn sie z.B. einen losen Handlungsfaden aus dem ersten „Captain America“-Film (fd 40 600) aufgreifen und noch einmal ein besonderes Augenmerk auf Tony Stark legen, mit dessen erstem Abenteuer 2008 alles begonnen hat. Stark aka Iron Man war stets eine der interessantesten Figuren der Filmreihe. Anders als der grundgute Captain America, den immer ein nostalgischer Hauch des im Kampf gegen den Faschismus erworbenen US-Selbstbilds als Weltschutzmacht von Demokratie und Freiheit umweht, durfte Robert Downey Jr. den Millionär, Waffenhändler und Erfinder Stark als ambivalente Figur anlegen, in der sich amerikanische Großmannsfantasien und Dominanzansprüche an Schuldgefühlen brechen und ein aufgeblasenes Ego und tiefe Selbstzweifel nahtlos ineinander übergehen. In „Infinity War“ sieht Stark sich jetzt mit jenem Albtraum konfrontiert, der seit „Marvel’s The Avengers“ seine Ängste und seine mitunter marodierenden Kontroll- und Präventivmaßnahmen befeuert hat: mit einer Macht, die nichts weniger als die Weltordnung über den Haufen zu werfen droht.